Die großen Unbekannten

Die großen Unbekannten
Vom Sudan über Nordkorea bis Moldawien und Afghanistan: Trotz Unrechtsregimen und Terroranschlägen finden immer häufiger auch ungewöhnliche Länder den Weg in die Reisekataloge der Veranstalter.
VON FABIAN VON POSER
Allah sei mit uns! Amir tritt aufs Gaspedal. Der Motor faucht, die Federn rasseln, der Wagen schwankt. Wie ein Gummiball hüpft der Toyota zwischen den Dünen hin und her. Ein heißer Luftschwall dringt durch die Fenster in den Fond des Wagens: kochende Wüstenluft, verkohlter Sand, geschmolzenes Gummi. Wild schwankt das Auto über die Dünenkämme. Wie ein Aquarell liegen die Sandberge da, wie gleichförmige Schlangenlinien auf ein Blatt Papier gezogen die kleinen Wellen, die der Wind in den Sand gezeichnet hat. Dann stehen sie plötzlich vor uns: Zu groß geratenen Zuckerhüten gleich recken die Pyramiden von Meroe ihre Häupter in den Himmel. Feuerrot lodern ihre Spitzen im Sonnenuntergang. Dahinter wechselt der Himmel fast sekündlich seine Farbe, so als ziehe jemand buntes Zellophanpapier am Horizont entlang. Von tintenblau über zitronengelb zu ziegelrot.
„2500 Jahre und vielleicht ein bisschen mehr“, sagt Amir geheimnisvoll, als die Sonne im Nil versinkt. „Die Nubier waren ein großes Volk, ein mächtiges Volk.“ Von 2500 vor bis 350 nach Christus herrschte der nordafrikanische Volksstamm über weite Teile des heutigen Sudan und das südliche Ägypten. Schon früh übernahmen die Nubier Elemente der ägyptischen Kunst, auch die Gräberkultur kopierten sie. Rund 120 Pyramiden zählt allein die Nekropole von Meroe, insgesamt 210 sollen es im Sudan sein – mehr als in ganz Ägypten. Kaum ein Europäer hat den Ort in den vergangenen fünf Jahrzehnten betreten. Seit 1956 kommt der größte Staat Afrikas nicht zur Ruhe.
Doch inzwischen bieten einige Reiseveranstalter wieder Touren in das Land am Nil an. Nicht in den Westen nach Darfur, wo die Reitermiliz Dschandschawid gemeinsam mit der Regierung in Khartum skrupellos gegen schwarzafrikanische Zivilisten vorgeht, sondern in den Norden an der Grenze zu Ägypten. „Man mag das Regime nicht befürworten“, sagt Edwin Doldi, Sicherheitsbeauftragter beim Münchner Studienreiseanbieter Studiosus. „Aber das Land ist kulturgeschichtlich ungemein interessant. Und der Norden lässt sich problemlos bereisen.“
Eine wachsende Zahl exotischer Ziele findet seit einigen Jahren den Weg in die Reisekataloge. Nicht nur, weil Flugzeuge den Reisenden heute binnen weniger Stunden beinahe an jeden erdenklichen Fleck der Erde tragen, sondern auch, weil sich viele Gäste gerade bei ausgefallenen Zielen gerne auf die Sicherheit einer Veranstalterreise verlassen. Trotz Verstößen gegen die Menschenrechte und Terroranschlägen bieten einige Veranstalter Reisen in Krisenländer an.
Doch wie kommen die Anbieter auf Ziele wie den Sudan? „Die Idee zu einem neuen Land oder einer neuen Region kommt in der Regel von einem Reiseleiter, einem unserer Produktmanager oder einer Reiseagentur vor Ort“, erklärt Edwin Doldi. „Wir werten die Informationen aus und beraten dann darüber. Wenn eine Region oder ein Land wieder bereisbar ist, taucht es vielleicht ein Jahr, manchmal auch erst viel später im Katalog auf. Das oberste Gebot bei der Auswahl bleibt aber immer die Sicherheit des Reisegastes.“
Der Sudan ist nur eines von vielen Zielen, die in den vergangenen Jahren von Veranstaltern wieder oder neu angeboten werden. Zum ersten Mal seit langem findet sich auch Kolumbien wieder im Angebot der Veranstalter. Jahrelang kämpften linksgerichtete Farc-Rebellen gegen die Regierung in Bogotá. Immer wieder kam es zu Entführungen, die sich zu einer regelrechten Industrie entwickelten. Inzwischen hat sich die Sicherheitslage verbessert und Gruppenreisen können wieder ohne Risiko durchgeführt werden.
Ähnlich erging es dem Libanon. Seit der Präsidentenwahl 2008 und der Beteiligung der Opposition an der Regierung ist das Land wieder ohne Bedenken bereisbar. Der Münchner Veranstalter FTI hat dem Libanon jüngst sogar einen eigenen, 52 Seiten starken Katalog gewidmet. Fast die Hälfte davon füllen Stadthotels in Beirut. Dank der außergewöhnlichen Architektur, des pulsierenden Nachtlebens und der Vielfalt des gastronomischen Angebots hat sich die libanesische Hauptstadt den Beinamen „Paris des Nahen Ostens“ aufs Neue erworben. Wenn es nach Dietmar Gunz, Vorsitzender der FTI-Geschäftsführung, geht, soll Beirut in Zukunft sogar Städtereisezielen wie Barcelona oder Istanbul Konkurrenz machen. „Das Potenzial dazu hat die Stadt.“
Doch auf der Suche nach neuen Zielen geht es nicht allein darum, die Wachstumsziele von morgen aufzuspüren, sondern auch wirkliche Exoten anzubieten. So hat vor einiger Zeit sogar Nordkorea Anbieter im Westen gefunden. Während sich Südkorea als moderner Staat präsentiert, ist Nordkorea seit der Unabhängigkeitserklärung 1948 technologisch und wirtschaftlich zurückgeblieben. In dem von den USA früher einmal zur „Achse des Bösen“ gezählten Norden kann der Besucher dafür noch ein einzigartiges politisches Relikt bestaunen: das System des Staatskommunismus. „Es sind vor allem Stammgäste und erfahrene Reisende, die solche ausgefallenen Ziele buchen“, sagt Edwin Doldi. „Die Nachfrage bewegt sich hier freilich auf relativ geringem Niveau.“
Auch in Europa werden noch neue Ziele entdeckt. Zum Beispiel Moldawien. Seit der Unabhängigkeit von Russland 1991 ist das Land souverän. Zwar setzen sich die Konflikte zwischen dem westlichen und stärker an Rumänien angelehnten und dem östlichen, an Russland angelehnten Teil fort. „Diese ethnische, religiöse und ideologische Vielfalt und das reiche Erbe der orthodoxen Klöster machen Moldawien aber zu einem äußerst interessanten Studienreiseziel“, heißt es beim Königsteiner Reiseanbieter Ikarus Tours, der das Land seit 2005 im Programm hat.
Selbst ein Ziel wie der Irak ist für die Veranstalter nicht grundsätzlich tabu. Seit dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen 2003 befindet sich das Land offiziell im Ausnahmezustand. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen dorthin. Doch das könnte sich bald ändern. Zwar ist heute in Bagdad keine internationale Hotelkette mehr vertreten. Das irakische Tourismusministerium denkt jedoch schon jetzt an die Zeit, wenn wieder Sicherheit eingekehrt ist am Tigris. Zwischen zwei und fünf Milliarden Euro sollen allein für einen neuen Tourismuskomplex auf der etwa zwei Quadratkilometer großen Hochzeitsinsel im Tigris in Bagdad ausgegeben werden. Geplant sind mehrere Luxushotels, Wellnessanlagen, ein Jachthafen, Boutiquen, Restaurants und ein Golfplatz.
Reiseveranstalter wie der kalifornische Anbieter Distant Horizons und die französische Firma Terre Entière bieten bereits seit 2008 wieder Reisen in den Norden des Landes an. Auch deutsche Veranstalter verfolgen das Geschehen mit Spannung. „Der Irak ist das Herz des alten Orients, er bietet einen einzigartigen Kulturschatz“, sagt Manfred Schreiber, Gebietsleiter Naher und Mittlerer Osten bei Studiosus. „Das Land war so lange nicht bereisbar, deswegen herrscht gerade unter Orientkennern großer Nachholbedarf.“ Schon 2001, kurz vor den Anschlägen vom 11. September, war der Irak für einige Monate im Programm von Studiosus. „Damals waren alle Reisen sofort ausgebucht“, sagt Schreiber. Zu den Hauptattraktionen zählen die Bibelstadt Babylon, die sumerischen Königsstädte Ur und Uruk, die assyrischen Metropolen Nimrud, Ninive und Assur, die parthischen Ruinen von Hatra sowie die den Muslimen heiligen Städte Kerbela, Nadschaf und Samara.
Auch ein anderes ausgefallenes Ziel könnte schon bald eine Renaissance erleben: Afghanistan. Nach vielen Jahren taucht das Land am Hindukusch zum ersten Mal wieder auf der touristischen Landkarte auf. Einheimische Veranstalter bieten schon jetzt wieder Touren zu den 2001 von Talibankriegern gesprengten Buddha-Statuen von Bamian an, unternehmen Trekkingtouren in die nördliche Provinz Badakschan, Snowboard-Touren in den Hindukusch und Rafting auf dem Panschir.
Aber kann man überhaupt bedenkenlos in Länder reisen, in denen Unrecht, Entführungen und Gewalt auf der Tagesordnung stehen? „Diese Länder zu isolieren bringt den Menschen vor Ort unserer Überzeugung nach gar nichts. Sie ihrem Schicksal zu überlassen ist der falsche Weg“, sagt Studiosus-Mann Edwin Doldi. „Wir glauben, dass ein Tourismus, der sich sozialverträglich nennt und nicht nur nimmt, sondern den Menschen in den besuchten Regionen auch etwas gibt, den Reisenden und den Menschen in den Ländern Vorteile bringt.“ Das gelte für viele Länder dieser Kategorie.
In Birma zum Beispiel, wo seit Jahren ein Militärregime regiert, unterstütze sein Unternehmen eine Klosterschule durch die Anschaffung medizinischer Geräte für die Schulklinik, so Doldi. „Diese Lehranstalt besuchen inzwischen rund 6500 Schüler – und unsere Gäste im Rahmen von Studienreisen. Und das bringt beiden Seiten etwas.“

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