Was ist Chinaware im Sudan?
Von Rolf C. Hemke
Die Sonne steht tief über dem Zentralfriedhof von Khartum. Islamgrüne Standarten ragen hoch in den dunstigen Himmel und künden von der festlichen Freitags-Prozession. Etwa tausend Menschen, Gläubige, Sufi-Adepten und eine Handvoll Touristen säumen den Sandplatz vor dem Mausoleum von Hamed-al-Nil. Die Aufmerksamkeit der Menge richtet sich auf die Ankunft eines Dutzend Männer in grün-roten, orangenen oder leopardenfellgemusterten Galabeyias. Es erhebt sich – von monotonem Trommelrhythmus begleitet – die Gebetsmühle “La illaha illallah”. Die Menschen geraten in kollektive Bewegung, die Derwische verfallen in ihre kreisenden Tanzbewegungen. Die legendären, immer wieder als unislamisch bekämpften “tanzenden Derwische” haben sich in Khartum bis heute als performative Tradition im Islam erhalten.
In Khartum prallen die Widersprüche zwischen Tradition und Politik, gelebten Religionen und islamistischer Doktrin, die den Vielvölkerstaat Sudan bestimmen, unmittelbar aufeinander. In den Slums sollen etwa eine Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus allen Teilen des größten afrikanischen Landes leben. Letzten Sommer schwappte ein Rebellenan- griff aus Darfur bis nach Khartum und auch heute noch steht in unmittelbarer Nähe des Nationaltheaters eine ständig besetzte Panzerwache.
Doch das äußere Bild der Stadt ist zivil, ja urban. Die Straßenreinigung funktioniert, die Kreisverkehre sind mit Blumenrabatten geschmückt, die wenigen schattigen Straßencafés sind überfüllt. Trotz strikter Prohibition gibt es mittlerweile wieder zwei alkohol-lizenzierte Restaurants. Im neu angelegten Park am Nilufer in der Nähe des Nationaltheaters turteln junge Paare. Weiteres Zeichen der Normalisierung ist die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts im vergangenen Jahr – nach über einem Jahrzehnt Schließung.
“Seit dem Friedensabkommen mit dem Südsudan 2005 erlebt das Land das erste Kapitel einer vorsichtigen Öffnung – trotz drastischer Regierungsrhetorik”, sagt Nasser al Sheikh, Professor des ausgerechnet am Drama-Department angesiedelten Friedensforschungsinstituts der Khartumer Nilein-University. Es ist das einzige seiner Art im Sudan, wurde bereits Ende der neunziger Jahre aus einer Initiative von Theater-Studenten heraus gegründet und wird nach wie vor personell durch das Drama-Departement gestützt. Nasser ist ein in England studierter Theaterwissenschaftler und “parteiloser Liberaler”. Die Bezeichnung “Oppositioneller” scheut er, seit er 2003 nach langjährigem Exil in Jemen wieder zurückkehrte, um bei den Friedensgesprächen zu beraten.
Demonstrativ Zähne zeigen
Nirgendwo aber lässt sich die neue Offenheit stärker spüren als auf den Bühnen des Landes, in Khartum genauso wie in der Provinz. Aus der Stadt Medani kommt Muhammed Al Shayir mit seiner Gruppe, ein notorischer Regierungskritiker. Mit ihrem Stück “Nachtschatten” zeigen sie demonstrativ Zähne, die drei Bühnenwände zeigen drei überdimensionierte Münder: geschlossen, offen mit bleckenden Zähnen und wie zum Gähnen geöffnet. Die Figuren, in ballonseidene Clownskostüme gewandet, zerfetzen sich von Anfang das Maul. Im sudanesischen Arabisch wird das Verb “lästern” plastisch mit “einen anderen Menschen essen” umschrieben.
Durch Varianten, Erweiterungen und Paraphrasen der Redensart verdeutlicht Al Shayir in bester Dissidentenmanier, dass er die an sich figurative Umschreibung wörtlich genommen wissen will. Natürlich geht es ihm dabei nicht um “Kannibalismus”, sondern um den Bürgerkrieg im Land, dessen grausame Willkür er gleichsetzt mit der Leichtfertigkeit des Rufmords in der zivilen Gesellschaft. Die Figuren bitten die Polizei um Hilfe, die Gerichte, Ärzte, schließlich den Präsident. Aber niemand schreitet dagegen ein, alle schauen weg oder lassen geschehen. Als Quintessenz postuliert er bitterböse: Wenn wir uns gegenseitig auslöschen, bis keiner mehr übrig ist, sind auch unsere Probleme gelöst.
Diese Botschaft liest aus der Aufführung aber nur heraus, wer will. Ein Kulturoffizieller lacht und sagt über die Aufführung: “Wir fressen uns doch nicht auf, wir sind doch keine Kannibalen. Wir sind ein Land mit 7000 Jahren Kulturgeschichte.”
“Eine Theaterzensur im eigentlichen Sinne gibt es im Sudan nicht”, erläutert Ali Mahdi, der Leiter des staatlichen Bugaa-Theaterfestivals, das jedes Jahr im Spätfrühling stattfindet, “die Zensur findet bei den Theatermachern bereits im Kopf statt.” Nasser al Sheikh bestätigt das: “In unserem Land ist der Staat ohnehin überall präsent, die würden bei offener Regierungs- oder Religionskritik schnell einschreiten.
Aber die Freiheiten reichen so weit, dass Theatermacher ihren Protest auch gegen staatliche Missstände offen vortragen können. So zeigt Amir Abdu Alhakim aus Khartum in “Der volle und der leere Buchstabe des Gesetzes” die satirische Geschichte eines frustrierten Eigenheimbesitzers. Kaum dass der Mann in sein Neubau-Häuschen gezogen ist, muss er feststellen, dass das Leitungswasser nach Fäkalien stinkt. Als die Bewohner herausfinden, dass Abwasser- und Frischwasserleitungen nicht ordentlich verlegt worden sind, beginnt offener Protest. “Das ist die erste Darstellung einer Demonstration gegen staatlich verantwortete Missstände auf einer sudanesischen Bühne”, raunt Ali Mahdi. Auf der Bühne geht es weiter wie im wirklichen Leben: Die Verwaltung reagiert auf den Protest mit wortreichen Versprechungen.
Wenig Zuschauer, große Resonanz
Gegenüber dem Bugaa-Festival zeigen sich die Staatsorgane liberaler als sonst. Die Zahl der systemkritischen und dezidiert politischen Aufführungen ist bemerkenswert. Die Aufführungen finden nicht – wie früher – in Ali Mahdis Bugaa-Theater, einer kleinen privat finanzierten Bühne statt, sondern im Nationaltheater, einem 1959 von den Engländern gebauten, offenen Amphitheater mit überdachter Szene. Meist sitzen nur 500 Zuschauer in dem weiten Rund – aber die Resonanz auf die Stücke in Form von heftigen Diskussionen ist groß.
Ausgezeichnet als beste Aufführung des Festivals wurde “Phantasie über stummes Leid”. Nureddin Achmed Abdul Rahman zeigt mit seiner Theatergruppe aus Port Sudan in diesem Stück die Geschichte eines Nomadenstammes. Als dessen Mitglieder sich weigern, auf Geheiß der Provinzregierung ihr angestammtes Weideland zu verlassen, kommt der Gouverneur auf seinem weißen Steckenpferd eingeritten mit einem Spazierstock in der Hand – wie ihn Al-Bashir gerne trägt.
Der Gouverneur erläutert, dass auf dem Land Ton gefunden worden sei, aus dem sich “Chinaware” (Porzellan) anfertigen lasse (gemeint ist Erdöl, das im Sudan ausschließlich von chinesischen Firmen gefördert wird). Die hohe Entschädigung, die die Nomaden erhalten hätten, wenn sie ihr Land verlassen hätten, wurde komplett in der Verwaltung unterschlagen, und letztendlich werden die Nomaden mit Gewalt von ihrem Land vertrieben.
Quelle: Was ist Chinaware im Sudan?